Erfrischender Tanzsprudel in Hellblau

Mit glue light blue („Klebstoff hellblau“) steuert der 1992 in Israel geborene Choreograph Nadav Zelner eine überhaupt nicht klebrige, quicklebendige und äusserst unterhaltsame Uraufführung zum Repertoire der Hessischen Staatsballetts bei. In Kooperation mit seinen beiden langjährigen Ausstattern Eran Atzmon (Bühne) und Maor Zabar (Kostüm) entstand ein einstündiges, bildmächtiges und vor allem hochmusikalisch choreographiertes Gesamtkunstwerk. Zelner bedient sich immer wieder aufs neue aus zahllosen Tanzstilen und durchmischt diese mit einem bedeutungstragenden aber nur stroboskopartig auftauchenden Gesten- und Grimassenmosaik. Durch die gelungene Verzahnung der Choreographie mit der Ausstattung eröffnet sich so ein weiten Assoziationsraum.
Die Flut oft akrobatischer Bewegungsschnipsel, die blitzschnell zwischen absurd und poetisch changiert, wird von den 18 TänzerInnen der Companie brillant umgesetzt und bietet allen eine Fülle an Möglichkeiten, ihre tänzerischen Qualitäten optimal zu präsentieren.

Viel Tanz im flexiblen Bühnenraum

Formal gliedert sich da Stück in drei Abschnitte, die eine Themenpalette immer wieder umspielen. Schon vor Beginn des Stücks klackern 35 basketballgrosse, am Boden liegende und in einem Koordinatensystem angeordnete Steine leise Rhythmen. Umrahmt ist dieses Steinfeld von drei Seiten durch eine 3 m hohe hellblaue und erdfarbene Wand, die der Companie im Laufe des Abends vielfältige Auftritts- und Abgangsmöglichkeiten beschert. Unter einem tief brummenden Klangteppich füllt sich die Bühne nach und nach mit immer mehr geheimnisvoll gestikulierenden und grimassierenden Unisex-Geishas, die sich mit Hilfe ihrer Kimonos immer wieder verhüllen oder die Flügel spreizend eine adrige Fledermaushaut präsentieren. Diese an eine ausserirdische Beamtenschar erinnernden Wesen laufen meist präzis gewinkelte Bahnen ab, während sich einzelne auf den als Kreuz gestaltenen Laufsteg über dem Orchestergraben vorwagen. Sie beäugen und inspizieren das Publikum ebenso, wie sie sich mit ihren unterschiedlichen Ticks preisgeben. Manche spucken Wasser, grüssen mit Spock-Vulkaniergeste oder geben dadaistische Silbenfetzen von sich. Zum Finale dieses Teils peitscht das gesamte Ensemble windmühlenartig ihre Ärmel auf den Boden bevor sie wieder ins Dunkel verschwinden.

Zwei Tänzer in kimonoartigen Kostümen spucken lange Wasserstahlen

Space-Japan goes Commedia dell Arte

Nach diesem dunkel-mystischen Auftakt verschwinden im zweiten Teil die Kimonos und das Ensemble verwandelt sich über derwischartigen Drehungen in eine immer wieder neu durchmischte Sammlung meist gut gelaunter, miteinander in unterschiedlichsten Formationen und Kombinationen tanzender Gestalten. Alle tragen kurze enge Trikothosen und haben in Matsch getauchten Füsse. Wer lange Haare hat, trägt noch den schmalen senkrechten Dutt der Geishas, die kurzhaarigen Männer haben an Hirnwindungen erinnernde Glatzen geklebt.

Im hellen Raum spult sich nunmehr zu abwechslungsreichen, rhythmischen Liedern aus dem Nahen Osten eine nicht enden wollende Kette an kurzen Tanzepisoden ab: immer wieder von kurzen Posings durchbrochen, entstehen scheinbar spielerisch fantasievolle Bewegungsfolgen, auch hier wieder mit erzählenden Gesten und Grimassen durchsetzt.

Während sich das Ensemble mit einfachen Schreittänzen an den Wänden entlang drückt werden in der Mitte des Raumes Facetten unterschiedlichster Beziehungen verhandelt. Es gibt keine durchlaufende erkennnbare Story, aber ein überbordender Spass an Verwandlung und Variation. Am Ende dieses Teils stürzen sich die Tanzenden nach und nach in den sich auftuenden Bühnenuntergrund.

Erotik im Aquarium

Der letzte Teil beginnt unterlegt von Wasserrauschen. Zwei mittlerweile ihrer Hosen und in Matsch getauchten Füsse entledigten Frauen entsteigen einem angedeuteten Schimmbad und explorieren nach einem innigen Kuss neue, erotisch konnotierte Bewegungsformen. Nach und nach erscheint auch hier das gesamte Ensemble und zeigt uns neue choreografische Miniaturen.

In einem teilweise auch von grossem sinfonischen Orchestersounds unterlegten Finale interagiert das Ensemble mit den immer wieder auf und niederschwebenden Steinen, atmet scheinbar gemeinsam mit ihnen. Die drei Wände steigen hinauf, Wasser beginnt aus ihnen herabzuregnen so dass sich die Bühne in die Andeutung eines gigantischen Aquariums verwandelt. In diesem feuchten Paradies agiert das Ensemble teilweise als wirkliche Einheit eines „Corps du ballet“, das sich selbst durch halblaute akustische Signale koordiniert. In einzelnen Sequenzen umspielen sich die Leiber der TänzerInnen höchst sinnlich und brechen als weitere Steigerung zuweilen in laute Balzlaute von Vögeln und Affen aus. Variationsreich interagieren sie miteinander bis das Stück mit dem Sturz und dem Zerbrechen eines Steins schliesslich endet.

Theater als Ort absurder Träume

Nadav Zelner, der Choreograph und kreative Kopf des Abends tanzte zunächst bei der Kibbutz Contemporary Dance Company und schloss eine Ausbildung an der Thelma Yellin School of the Arts mit Auszeichnung ab. Im Anschluss choreografierte er mehrere Musicals und trat als Tänzer in Produktionen mit Adi Salant in Italien und Helena Chridolido auf Zypern in Erscheinung. Durch tänzerische Minidramen, originelle und rasante Clips machte er zunehmend auf sich aufmerksam. 2017 übernahm Eric Gauthier in Stuttgart die Stücke Chopsticks und Alte Sachen ins Repertoire seiner Stuttgarter Gauthier Dance Companie, die am Stutgarter Theaterhaus beheimatet ist..

Für die vielen Metamorphosen der TänzerInnen sorgt hinter der Bühne ein Team von 6 MaskenbilderInnen, die Verwandlungen des Bühnenraums stellen hohe Ansprüche an die Technik und die Inspizienz, deren Leistung von Ballettdirektor Bruno Heynderickx deshalb auch bei der Premierenfeier ausdrücklich erwähnt wird.

Dieser oft fröhlich vor sich hinhüpfende Tanzabend eignet sich durch seine Kürze und Sinnlichkeit auch für Menschen, die mit Tanz bislang nicht in Berührung gekommen sind.
Wer Lust hat sich auf eine phantasievolle Dance Fiction Reise durch Luft, Erde und Wasser zu begeben, sollte sich beeilen.

Mehr Informationen und Tickets finden Sie unter:
https://www.staatstheater-wiesbaden.de/tanz/premieren-2023-2024/glue-light-blue/


Fotos von Andreas Jetter mit freundlicher Genehmigung des Hessischen Staatsballets

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