Fluide Identitäten – Abtauchen in der Eisbachwelle

Wer gehört zu wem und warum? Diese Frage steht im Hintergrund eines ebenso kriminalistischen wie poetischen Theaterabends an der Schauburg, Münchens traditionsreichem Theater für Kinder und Jugendliche. Autor Florian Wacker begibt sich in diesem Auftragswerk auf die Suche nach dem Lebensgefühl in Großstädten, das er am konkreten Beispiel Münchens durchdekliniert. 

Sein Jugendroman „Dahlenberger“ wurde mehrfach ausgezeichnet und war Auslöser für das Team um Intendantin Andrea Gronemeyer, ihn mit seinem ersten Schauspiel für junges Publikum zu betrauen. Wacker beleuchtet aus der Perspektive von jugendlichen Menschen ihre Suche nach dem eigenen Ich und der Identität der Anderen.

Wer ist Ronja eigentlich?

Zentrale Figur ist Ronja, deren Eingangsmonolog viel über ihr fragiles Elternhaus erahnen lässt. Sie ist gleichzeitig vor Lebensfreude und Phantasie fast platzender Teil des fröhlich pubertierenden und herumalbernden Trios Ronja, Rafik und Paula. Wir erleben die drei, wie sie hochfliegende Pläne für die soeben begonnenen Sommerferien machen: auf Züge steigen und ans Meer fahren, so der Enge Münchens entfliehen. Als Ronja 30 Minuten nach Stückbeginn plötzlich verschwindet, frotzeln Rafik und Paula zunächst herum, erfinden coole Geschichten als Begründung. Doch dann wird klar, dass sie sich auf die Suche nach ihr machen müssen. Dabei stellen sie immer wieder fest, wie wenig sie von ihrer Klassenkameradin Ronja eigentlich wissen.

Das Publikum hat hier einen kleinen Vorteil. Die eingestreuten kurzen Monologe Ronjas belegen endlose Fluchtgeschichten, an deren Folgen Ronjas Mutter wohl irgendwann starb. Die aufopfernden Liebe für seine Tochter überdeckt die Verzweiflung des Vaters. Der Apfel und das Stück Brot, das er ihr gibt, war der letzte Essensrest. 

Im Lauf des Stücks ergeben sich aus fast jeder Szene Antworten über die Motivation der Figuren und gleichzeitig immer wieder neue Fragen. Die Puzzlestücke fügen sich für uns Zusehende oft schmerzhaft aneinander. Doch Ronjas Phantasie, die ihr die Flucht aus viel unangenehmer Realität ermöglicht hat, lässt uns natürlich auch immer wieder zweifeln, ob das auf der Bühne erzählte Traum, Wunsch oder Wirklichkeit ist.

Das Trio Paula, Ronja und Rafik (v.l.n.r)

Brüchige Biographien

Jede der Figuren leidet an ihren Verletzungen, muss mit der eigenen Biographie kämpfen. Rafik, dessen Vater aus dem Iran stammt, ist in München mit seiner deutschen Frau beruflich extrem eingespannt und erfolgreich. Deshalb erlebt Rafik die Hausangestellte Tanja eigentlich als ihn täglich versorgende Mutterfigur. Paula, deren Vater Oscar Nachtschichten in der Leichenhalle oder auf der Intensivstation schiebt, bittet die Jugendlichen um Verständnis für Paulas depressive Mutter, die es nur selten aus dem Bett schafft. Doch Paula ist darüber ebenso traurig wie wütend. 

Immer wieder macht die schmutzig-graue Palette der brüchigen Biographien all dieser irgendwann zugezogenen Großstadtbewohner*innen klar, wie fragil unsere Bilder von Identität und Zugehörigkeit sind. Manchmal geschieht das in den Spielszenen, manchmal in den pragmatisch-philosophischen Exkursen vor allem von Ronja, aber auch von vielen anderen Figuren.

Wunderbares Ensemble

Während Lucia Schierenbeck als Ronja, Janosch Fries als Rafik und Helene Schmitt als Paula die jugendlichen Freunde facettenreich als durchgehende Figuren etablieren, werden alle Erwachsenen durch David Benito Garcia, Simone Oswald, David Kempling  und Michael Schröder als schnelle, pointierte Skizzen dargestellt: Simone Oswald beispielsweise wechselt von einer besorgten, Briefkästen leerenden Putzfrau im Wohnblock u.a. in Ronjas Mutter und leitet ganz am Ende des Stücks als aufmerksame und sportliche Surferin am Eisbach ein Eintauchen in die titelgebende Eisbachwelle ein, der das ganze Ensemble folgt. Ein kollektiver Rausch, ein nur durch die Körper der Spieler*innen erzähltes Finale, das von Ronja schweigend vom Rand aus beobachtet wird.

Fließender Arena-Raum

Vieles im Stück wird dramaturgisch oft nur angedeutet und erzeugt so einen zuweilen  verunsichernden Schwebezustand, der durch die vielen Videoeinspielungen von Lukas März und Anna Holter, die auch die tanzenden Ronjas choreographierte, immer wieder unterstrichen wird. Während über den Köpfen der Zuschauer rauschende Wellen und verpixelte Natur als Assoziationen projiziert werden, machen die Musik- und Klangcollagen von Taison Heiß die verschiedenen Ebenen von Traum, Erinnerungen und Wirklichkeit hörbar.
Die flexibel umbaubare Arenabühne von Michael Kraus ermöglicht schnellste Szenen- und Ortswechsel, der Raum bleibt in ständiger Bewegung –  genau wie die sieben Darsteller*innen, die oft auch zwischen den Zuschauenden agieren. So wird auch die klassische Grenze des „Ihr auf der Bühne, wir im Zuschauerraum“ immer wieder aufgeweicht, verflüssigt, zum Verschwinden gebracht.

Die vermisste Ronja wundert sich über den Trubel, den ihr Verschwinden auslöst.

Gepacktes Publikum

Dies ermöglicht eine zweite spannende Ebene der Aufführung: die vielen Reaktionen des hauptsächlich jugendlichen Publikums zu beobachten. Nachdem anfangs noch die Tanzvideos laut kommentiert werden, schlägt die sich entfaltende Geschichte alle nach und nach in Bann, fordert auch Konzentration ein. Erst die angedeutete Eifersucht von Paula auf Ronja, die immer wieder zu Fragen an ihr Love-Object Rafik führt, den Paula verdächtigt, mehr als nur einen Buddy in Ronja zu sehen, bringt wieder pubertäre Unruhe vor.

Und so bietet das Stück über 90 Minuten hinweg viele Denkanstösse. Bleibt die grosse Frage in wie weit diese bei den Jugendlichen auch ankommen und verfangen. Durch die Dichtheit des Geschehens werden viele Themen in Resonanz gebracht, die aber in den Schulen vor- und /oder nachbesprochen werden sollten.

Kluge und einfühlsame Regie

Die Regie dieser berührenden Produktion führte der in Stockholm lebende, mehrfach preisgekrönte Theater-, Opern- und Filmregisseur Johannes Schmid, der mit dieser Uraufführung an die Schauburg und in seine Heimatstadt zurückkehrte. Er strukturierte und kürzte den teilweise ohne klare Figurenzuordnung vorliegenden Originaltext klug.

Leider fällt ihm Ronjas Rückkehr auf die Bühne ca 15 Minuten vor Stückende auf die Füsse. Denn auf der formalen und emotionalen Ebene schliesst ihr Wiederauftauchen das Stück sichtbar ab. Die eigentlich dichten Szenen, die dann noch folgen – darunter viel Klärung der Beziehung zwischen Rafik und Paula – wirken durch die unglückliche Platzierung im Stück nur noch wie ein etwas angestrengter Epilog. Die Aufmerksamkeit des Publikums hat sich erschöpft, die Szenen laufen teilweise ins Leere.

Dass durch die aktuellen politischen Ereignisse im Iran und der Ukraine die lockere Erwähnung von Städten wie Teheran oder Moskau im Publikum Assiziationskaskaden auslöst, die der zuvor geschriebene Stücktext nicht behandelt und einlöst, macht klar, dass Theater noch viel schneller auf die Realität reagieren kann und sollte.

Hier könnte bei der Wiederaufnahme im März 2023 durch winzige Veränderungen viel für die Geschlossenheit und Wirkung getan werden.

(Die verwendeten Photos stammen von Judith Buss und wurden freundlicherweise von der Schauburg zur Verfügung gestellt)

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